Das Märchen vom Prinzen Madurai

Es war einmal im Dezember 1981, als König Schach und Königin Backy Backgammon durch Südindien reisten. König Schach war schon ein sehr alter Herr, geboren vor etwa 1500 Jahren in Nord-Indien. Königin Backy war noch älter, sie wurde vor ungefähr 2000 Jahren in Rom geboren.

Er ist immer noch unumschränkter König der klassischen Brettspiele, sie ist die Königin der Würfel-Spiele. Beide haben noch heute Millionen von Anhängern und beide werden jeden Tag vieltausendfach auf der ganzen Welt gespielt.

Madurai-Tempel
Als sich die beiden zufällig in Südindien trafen, verliebten sie sich spontan ineinander. Trotz ihres hohen Alters waren sie beide geistig jung geblieben. Wahrscheinlich lag es an den vielen schönen Tempeln und Maharadscha-Palästen, aber insbesondere an der tief religiösen Atmosphäre in Südindien, dass sie in ihrem hohen Alter noch romantische Gefühle entwickeln konnten.

Backy liebte an König Schach die klare männliche Strategie des Spiels und das martialische Vorgehen der Spielsteine bis zum bitteren Ende, aber auch das übersichtliche 8x8-Brett.
König Schach liebte an Königin Backy Backgammon das unvorhersehbare Würfelglück und das etwas pazifistischere Vorgehen der Spielsteine, denn die Gegner werden zwar auch rausgeworfen, aber sie können dann gleich wieder ins Spiel zurückkommen, wenn auch ganz von vorn. Auch liebte er das Wettrennen und die Strategie, den Gegner zu blockieren. Gegensätze ziehen sich eben an…

Die Liebe der beiden ging jedoch noch weiter. Sie wollten gemeinsam einen Sohn zeugen! Bei so vielen guten Genen musste ja etwas Gutes dabei herauskommen.
Der Zeugungsakt lief im Verborgenen ab, aber die gegenseitige Befruchtung war so intensiv, dass die Tragzeit bis zur Geburt des neuen Sohnes nur einige Tage dauerte.

Am 08.12.1981 geschah es dann auf einer Busfahrt von Kodaikanal nach Madurai, der gemeinsame Sohn wurde geboren. Als die beiden in Madurai ankamen, überlegten sie nicht lange, ihr neuer Sohn sollte Madurai heißen! Prinz Madurai hatte das Licht der Welt erblickt.

Liebesgeschichte

König Schach und Königin Backgammon mit ihrem kleinen Prinzen Madurai


Aber wie sollte es nun weitergehen? Der Sohn war ja noch ziemlich unterentwickelt und brauchte erst mal Zeit zum Wachsen. Die Eltern hatten nicht viel Zeit, sich um ihren Sohn zu kümmern, sie hatten ja beide Millionen von Fans, die dauernd mit ihnen spielen wollten. Also entschlossen sich die beiden, ihren Sohn im Tempel von Madurai abzugeben, wo er gut von den Göttern behütet war. Sie kamen aber regelmäßig mal vorbei, um nach ihrem Sprössling zu sehen. Brahma, Shiva und Ganesch spielten dann mit ihnen.

Am Ende des Jahres 1985 war es dann soweit. Prinz Madurai war gerade 4 Jahre alt geworden und jetzt konnte man schon mal ernsthaft mit ihm spielen. Man darf ja nicht vergessen, dass es ein Spiel für Erwachsene ist.
Prinz Madurai hatte einige Eigenschaften von jedem Elternteil geerbt. Vom Vater das Spielbrett und die Zugweise seiner Spielsteine, von der Mutter das Würfeln, den Doppelzug und das Wettrennen.
Doch wie jedes Kind entwickelte auch er neue Eigenschaften, die den Eltern fremd sind. Der Prinz war ein Perfektionist und wollte seine Spielsteine immer möglichst ordentlich auf dem Brett platzieren. Und diesem Hang zum Perfektionismus mussten die Götter Rechnung tragen, was ihnen auch nicht schwer fiel, denn jeder von ihnen war ja auch ein Perfektionist, wenn auch jeder auf seinem Gebiet.

Gegenüber seinen Eltern hatte der Prinz den Vorteil, dass man auch zu dritt oder zu viert mit ihm spielen kann. Je nach Zeit, zumeist in der Mittagspause, spielten die drei Götter Brahma, Shiva und Ganesch mit ihm, manchmal auch zu dritt. Aber dabei kam es oft zum Streit zwischen ihnen, weil der eine sich benachteiligt fühlte, wenn die beiden anderen sich gegen ihn verschworen.
Da machte Shiva den Vorschlag, dass man doch seine Frau Minakshi hinzuziehen könnte. Nach anfänglichem Zögern war sie auch bereit mitzuspielen, obwohl sie in der Mittagszeit eigentlich anderes zu tun hatte, sie war ja immerhin die Herrin des Tempels! Und siehe da! Das Gleichgewicht war wieder hergestellt, bei zwei gegen zwei fühlte sich keiner benachteiligt, ganz im Gegenteil, sie konnte sich ganz offen gegenseitig unterstützen, was auch der Ehe von Shiva und Minakshi ganz gut tat.

Und jetzt begann die jahrelange Entwicklungsphase des Prinzen Madurai zum Erwachsenwerden, sozusagen seine Pubertät. Die drei Götter hatten ja sonst immer mit König Schach und Königin Backy gespielt, aber mit Prinz Madurai hatten sie jetzt ein Spiel, was den Reiz der beiden Spiele vereinigte. Zum einen musste man, wie beim Schach, sein Gehirn ziemlich anstrengen, um gut zu spielen, andererseits hatte es den Reiz des Unvorhersehbaren durch die Würfel.
Nach jahrelangem Spiel mit den Eltern kam auch schon mal eine gewisse Langeweile auf, weil die Stellungen zu Anfang immer sehr ähnlich waren, auch wenn es später dann interessanter wurde. Mit Prinz Madurai hatte man immer völlig neue Spielstellungen, denn allein schon der erste Zug hatte ja 36 Würfelkombinationen und bei jeder Kombination hatte man sehr viele Zugmöglichkeiten.

Brahma

Brahma

Shiva

Shiva

Ganesha

Ganesha

Minakshi

Minakshi

In den folgenden drei Jahren steuert jeder der Götter etwas zur Entwicklung des Prinzen bei:
Shiva, bekannt für seiner Zerstörungswut, erfand die vier Rauswurf-Arten und Brahma mit seiner Kreativität die Grundstellung und die Punktwertung.
Ganesch hatte den größten Kopf von allen und war den anderen beiden in der Logik klar überlegen. Als Intellektueller gab er dem Spiel die mathematische Note, denn mit den Wahrscheinlichkeiten konnte er viel besser die richtige Balance zwischen Aufbau und Zerstörung halten. So lernte jeder von jedem und es entwickelten sich interessante Spiele.
Auch Minakshi lernte schnell das Spiel, denn ihr Mann Shiva konnte ihr beim Spiel zwei gegen zwei gute Tipps geben. Das führte sogar so weit, dass sie mit ihrem Hang nach ästhetischer Vollkommenheit die Sequenzen erfand, die ideale Reihe.

Das Aufschreiben der gewonnenen Punkte war den Göttern zu stumpf, sie wurden in einer eigenen Tempelwährung ausgezahlt:
1 Paisa für einer 3er-Reihe, 1 Nandi für eine 4er-Reihe, 1 Gopuram für eine 5er-Reihe und eine Madurai für eine 6er-Reihe.
Etwas später vereinfachten sie die Auszahlung der Punkte, denn Brahma erfand die Felder rund um das 8x8-Brett, wo sie die Punkte weitersetzen konnten. Damit war auch das Spielende klar definiert, denn die Mittagspause dauerte ja nicht ewig...

Madurai1

Prinz Madurai mit seinen Zieheltern und den Tempeltürmen


Aus Dankbarkeit für seine Jahre im Minakshi-Tempel schmückte der Prinz sein Brett mit den vier hinduistischen Gottheiten, die ihn betreuten und mit den kleinen und großen Gopurams, den reich verzierten Türmen an den vier Seiten des Tempels.

Mit 6 Jahren, also 1987, trat er dann zum ersten Mal in die Öffentlichkeit. Er fand auf Anhieb ein paar Freunde und wurde sogar als Turnier gespielt. Das machte ihn sehr stolz. Nun war es an der Zeit, an die große Öffentlichkeit zu gehen.

In Göttingen fand jedes Jahr ein Treffen der Spielkinder statt, wo sie sich der allgemeinen Menschheit präsentierten. Die Stadthalle ist dann voll mit neuen Spielkindern. Eine bunte Mischung aus allen möglichen Spielearten.
Prinz Madurai kam sich gleich etwas verloren vor, denn er war ja ein klassisches Spiel alter Ausprägung auf einem lange bekannten Spielbrett. Daran änderte auch der schöne Madurai-Tempel auf dem Spielbrett nichts, er blieb ein abstraktes Spiel, was nicht so richtig im Trend lag. Etwas enttäuscht fuhr der Prinz wieder heim. Aber er entwickelte sich unverdrossen weiter.

Mit 11 Jahren hatte er das Gefühl, aus dem Tempel heraus zu müssen. Das etwas militärische Spielprinzip passte auch nicht so richtig zu einem hinduistischen Tempel. Aber wohin sollte er gehen? Als Sohn zweier königlicher Eltern brauchte er eine besondere Spielumgebung. Und er bekam die Erleuchtung!

Solaris-Brett

Prinz Solaris


Es sollte der Weltraum sein, genauer gesagt das Sonnsystem. Und der Übergang vom Tempel zum Sonnensystem war gar nicht schwierig. Die Zieheltern wurden einfach durch die Sonne ersetzt, die kleinen Gopurams durch die kleinen Planeten und die großen Gopurams durch die großen Planeten.
Aber Prinz Madurai passte nicht zum Weltraum, er brauchte einen neuen Namen. Daher nannte er sich jetzt Solaris, das passte gut zum Prinzen und gut zum Sonnensystem.

Noch einmal stellte er sich in Göttingen dem Publikum, jetzt in neuer Umgebung und mit neuem Namen. Er fand ein paar Freunde, aber der große Enthusiasmus blieb aus. Auch wollte kein Spielehersteller ihn vermarkten, weil seine Spielregeln zu abstrakt und zu komplex für die potentiellen Käufer geworden waren. Er fragte sich, ob seine Eltern wohl einen Spielehersteller gefunden hätten, wenn sie erst jetzt geboren worden wären.

Ziemlich enttäuscht fuhr er nach Hause. Er war nicht mehr im Tempel, wo die Götter sich um ihn kümmerten und er verfiel in eine tiefe Depression, gefolgt von einem langen Dornröschen-Schlaf, der fast 24 Jahre dauerte.

Doch dann erwachte der Prinz plötzlich wieder! Er war jetzt 34 Jahre alt und voller Tatendrang. Die Situation hatte sich geändert, es gab jetzt das Internet! Und da sah er seine große Chance, dass er doch noch bekannt wird, als der Sohn der Spielekönige. Aber die Konkurrenz war inzwischen noch größer geworden, denn es gab jetzt viele Computerspiele mit tollen Grafiken. Da hat es ein neues klassisches Brettspiel sehr schwer…

Trotzdem begab er sich ins Internet und eröffnete mit 36 Jahren eine Web-Seite. Auch musste er seinen Namen abermals ändern, denn es gab schon ein Spiel mit Namen Solaris, unerhört! Er ließ einfach den letzten Buchstaben weg und hieß jetzt Solari.
Außerdem verfeinerte er seine Regeln noch weiter und nahm Kontakt auf zum Kollegen Domino, der ihm seine Spielsteine zur Verfügung stellte. Vater Schach war sehr zufieden mit seinem Sohn, denn die Domino-Varianten waren, wir er selbst, ein Strategiespiel. Aber was würde Mutter Backy dazu sagen? Es fehlte ja jetzt eine ihrer wichtigen Eigenschaften, das Würfelglück! Bei Recherchen stellte er jedoch fest, dass auch seine Mutter schon mal ein Techtelmechtel mit Herrn Domino hatte…

Er gab sich viel Mühe mit der Web-Seite und schuf sich eine schöne neue Umgebung mit fast allen Mitgliedern des Sonnensystems. Obendrein erstellte er ein Programm, womit man ihn spielend ausprobieren kann. Das war nicht einfach, aber er schaffte es! Beim Programmieren legte er sich noch weitere Helfer zu, den Doppler und den Jäger. Damit war seine Spielsteinfamilie endlich vollständig.

Solari-Brett mit Spielsteinen

Prinz Solari mit allen seinen Spielsteinen in Grundstellung


Jetzt war sein Perfektionismus fast befriedigt und er konnte sich durchaus sehen lassen. Selbst seine Mutter, Backy Backgammon, musste anerkennen, dass ihr der Sohn schon fast über den Kopf gewachsen war. Nur an Vater Schach reichte er noch nicht heran, der war einfach eine Nummer zu groß!
Erst mal wollte er es in Deutschland versuchen, bekannt zu werden. Wenn das gelänge, würde es sogar weltweit klappen und seine beiden Eltern wären stolz auf ihn!

- Vorläufiges Ende -


Das war das Märchen vom Prinzen Madurai, dem heutigen Prinzen Solari. Das Wesen eines Märchens ist es eigentlich, frei erfunden zu sein. Aber das ist hier nicht so. Es beschreibt ziemlich genau, wie es wirklich ablief von 1981 bis heute.
Vielleicht fragst du dich, wo sich die beiden Elternteile Schach und Backgammon denn getroffen haben? Es war nicht an einem Strand oder in einem Tempel in Südindien, sie trafen sich in einem menschlichen Gehirn, das zufällig meines war. Ich kann mich noch gut an den „Geburtsvorgang“ erinnern, es traf mich wie ein Schlag und ich wusste sofort, dass etwas Besonderes geboren war. Ich hatte noch ein paar andere Spielideen, doch Prinz Madurai war die beste meines Lebens!
Trotz der langen Ruhephasen habe ich das Spiel nie ganz vergessen und ich möchte hiermit verhindern, dass es ganz in Vergessenheit gerät. Es gibt sicherlich viele menschliche Gehirne, wo sich König Schach und Königin Backgammon getroffen haben, aber es ist offensichtlich nie zur Geburt eines gemeinsamen Sohnes gekommen. Zumindest ist mir bis heute noch kein Bruder des Prinzen über den Weg gelaufen.